T. Bruggisser-Lanker (Hrsg.): Den Himmel öffnen…

Cover
Titel
Den Himmel öffnen…. Bild, Raum und Klang in der mittelalterlichen Sakralkultur


Herausgeber
Bruggisser-Lanker, Therese
Reihe
Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Serie II, 56
Erschienen
Bern 2014: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
157 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Riedo

Im November 2008 fand im Rahmen der Ausstellung «Geheimnisse mittelalterlicher Handschriften» der Stiftsbibliothek St. Gallen eine von der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft organisierte interdisziplinäre Tagung zum Thema «Den Himmel öffnen... – Bild und Klang als Medien zum Heil» statt. Damals gehaltene Vorträge sind nun um einen auch das Medium Raum einbeziehenden Beitrag erweitert worden und als Sammelband erschienen. Die Herausgeberin, Therese Bruggisser-Lanker, führt mit dem Aufsatz «Mittelalterliche Kunst zwischen Wahrheitssuche, Gotteserfahrung und Ewigkeitssehnsucht» in das Thema des Bandes ein. Unter anderem mithilfe einiger Schriften aus St. Gallen entschlüsselt sie in konzisen Gedankengängen das mittelalterliche Symbolverständnis hinter den in ihrem Titel aufgeworfenen Begriffen. Dabei verdeutlicht Bruggisser-Lanker die Symbiose zwischen dem Streben nach Weisheit über den klassischen Bildungskanon und der biblischen Gottessuche. Gemäss Notker III. Labeo von St. Gallen waren es auch die freien Künste (Artes liberales), die zum Himmel, dem jenseitigen Gegenentwurf zur diesseitigen Erde, ‹geleiten› konnten (ze hímele léitên). Die Kirche als heiliger Ort und Tor zum Himmel stand über den christlichen Ritus direkt mit dem Göttlichen in Verbindung. In diesem zum Himmel hin offenen Weltkonzept weist das Kreuz Christi dem Gläubigen den Weg zu Gott, wobei in der Bibel die Jakobs- oder Himmelsleiter für die Verbindung zwischen Erde und Himmel steht.

Das Medium Bild erhellt die Historikerin Gabriela Signori mit ihrem Beitrag «Das innere Gespräch mit Gott. Repräsentatio und Imaginatio in der spätmittelalterlichen Theologie bzw. Theorie des Bildes und der Bilder.» Nachdem Signori mit verschiedenen Äusserungen vom 6. bis zum 13. Jahrhundert zur Bedeutung von Bildern eine theoretische Grundlage eingeführt hat, vertritt sie die These, dass in flämischen Bildern des 15. Jahrhunderts ein ganz anderer Bezug zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck kommt als in der Bilderwelt des vorangehenden Zeitalters. Anhand zweier Glasmalereien aus dem 13. Jahrhundert zeigt die Autorin auf, dass seinerzeit die Stifter der Kirchenkunst in Darstellungen der Heilsgeschichte zwar bereits abgebildet sind, allerdings lediglich als Nebenfiguren in einem von der Handlung abgetrennten Bildbereich auftreten. Im Mittelalter bleibt der Raum mit dem sakralen Geschehen also noch strikt vom Profanen, den dargestellten Stiftern, getrennt. Ein Vergleich zweier flämischer Kreuzigungstriptychen aus der Zeit um 1445 verdeutlicht, dass zwei Jahrhunderte später die Stifter bereits ungleich selbstbewusster auftreten und sich bisweilen sogar zu Rechten Christi malen liessen. Diese Tendenz veranschaulicht Signori mittels weiterer Darstellungen, wobei in Miniaturen aus dem Stundenbuch der Maria von Burgund (um 1477) die profanen Figuren mittlerweile die Scheu vor dem Sakralraum definitiv abgelegt haben, unmittelbar am biblischen Geschehen teilnehmen und dabei sogar neben dem am Kreuz hängenden Christus abgebildet sein konnten. Gemäss der Autorin hätte erst die vorangehende Offenbarungsmystik des ausgehenden 13. und 14. Jahrhunderts eine persönliche Unterredung mit Gott auf gleicher Augenhöhe ermöglicht, was sich ab dem 15. Jahrhundert sowohl in Texten als auch auf Bildern zeigen würde.

Der Kunsthistoriker Jens Rüffer nimmt sich mit seinem Beitrag «Raumerfahrung und Raumwahrnehmung im Mittelalter» der Architektur an. Nach einer allgemeinen Einleitung über die Sinne und die Wahrnehmung sowie die Raumvorstellungen und Raumerfahrung im Mittelalter wendet sich Rüffer in seinem klar strukturierten Text der Kathedrale von Canterbury zu, die eine der wenigen noch erhaltenen mittelalterlichen Bauten darstellt, zu welcher detaillierte zeitgenössische Beschreibungen bekannt sind. Während die aus dem Gedächtnis verfassten Beschreibungen von Eadmer († nach 1130) die Anordnung der Kirche vor dem Brand im Jahre 1067 schildern, beschreibt Gervasius von Canterbury († um 1210) in seinem Traktat De combustione et reparatione Cantuariensis ecclesiae vor allem den nach dem Brand von 1174 erfolgten Chorneubau. Rüffer gelingt es so, die bauliche Entwicklung von Christ Church über einen längeren Zeitraum nachzuzeichnen. Dabei legt der Autor überzeugend dar, dass es etwa Gervasius an essenziellen Fachtermini mangelte und die Beschreibungen insgesamt der mittelalterlichen Raumwahrnehmung entsprechen, weswegen Fragen nach der akustische Dimension oder nach der visuellen Erfahrung von Licht und Farbe damals nicht kommuniziert wurden. Für die Mönche standen vielmehr die Tradition des Ortes, die liturgische Kontinuität des Baus und dessen spirituelle Bedeutung im Vordergrund, was schliesslich ihre Raumwahrnehmung beeinflusste.

Den ausgedehntesten Platz im Sammelband nimmt Wolfgang Fuhrmanns Beitrag «‹Englische› und irdische Musik im 15. Jahrhundert» ein. Der Text reflektiert in tiefgründiger Weise die Musikgeschichte vom Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert und verbindet dabei die himmlische Musik der Engel u.a. mit den aus England herkommenden und seit ca. 1420 die kontinentale Polyphonie beeinflussenden musikalischen Neuerungen (Contenance angloise). Somit ist das im Titel erwähnte ‹Englische› durchaus in doppeltem Sinne zu verstehen. Im 15. Jahrhundert war die Mehrstimmigkeit längst nicht mehr ein Privileg der kulturellen Zentren, sondern erreichte auch entlegene Orte und wurde sogar von Anhängern einer Unterschicht praktiziert. Der grösste Teil der aus der Renaissance erhaltenen Kompositionen besteht aus zyklischen Vertonungen des Messordinariums, wobei Fuhrmann einen ersten Zusammenhang zur himmlischen Liturgie der Engel herstellt. Neben dem in der Bibel belegten Gloria und Sanctus galten nämlich auch das Kyrie und das Alleluia als Engelsmusik. Aus Fuhrmanns Erläuterungen geht hervor, wie die geistliche Polyphonie insgesamt als irdisches Abbild der himmlischen Liturgie verstanden werden muss. Ausserdem argumentiert der Autor, dass ein nicht unbedeutender Teil der Messvertonungen als Gedenkmesse gedacht war, die die Wartezeit der Seele im Fegefeuer verkürzen und so dem Verstorbenen ‹den Himmel öffnen› sollte. Die auf Erden geholte ‹englische› Musik sollte also ihrerseits wiederum die Himmelspforte öffnen. Die Verbindung von himmlischer und englischer, d.h. britischer Musik belegen u.a. ikonographische Quellen. Auf dem Genter Altar von 1432, der eine von Engeln gesungene himmlische Messe darstellt, greift der Engel am Orgelpositiv ausgerechnet einen gemäss dem Autor im britischen Musikrepertoire der Zeit besonders gebräuchlichen Quint-Dezim-Klang. Die Beliebtheit der neuen Harmonien aus England in gemalten Himmelsdarstellungen belegen auch andere von Fuhrmann angeführte Bilder. So legt der Autor insgesamt in verschiedenen Argumentationssträngen überzeugend dar, wie die geistliche Polyphonie der Renaissance als Jubilus zwischen Himmel und Erde und als irdisches Abbild der himmlischen Liturgie zu verstehen ist.

Der Sammelband enthält am Ende ein vollständiges Literaturverzeichnis sowie Kurzbiographien der Autoren und zeichnet sich ausserdem durch zahlreiche und fast durchwegs farbige Abbildungen aus. Den Interessenten sei dieser interdisziplinäre Sammelband mit hochstehenden Beiträgen wärmstens empfohlen.

Zitierweise:
Christoph Riedo: Rezension zu: Therese Bruggisser-Lanker (Hg.), Den Himmel öffnen… Bild, Raum und Klang in der mittelalterlichen Sakralkultur (= Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Serie II, 56), Bern, Peter Lang, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 392-393.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen